Today’s post is in German, at the request of some German readers. If you missed this post in English, you can find it here.
Während meiner Expedition entlang des Grünen Bandes (der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze) folgte ich einer Strategie, für die ich mir die Bezeichnung “strukturiertes Umherwandern” (Englisch “sauntering”) überlegt habe. Die 1400 km lange ehemalige Grenze selbst, mithilfe einer Radwanderkarte in meiner Lenkertasche und einer GPS-Route in meinem Handy, gab die geografische Struktur meiner Reise vor: Von der Ostseeküste bei Travemünde bis zur tschechischen Grenze. Der Geist meiner Reise war von Henry David Thoreau inspiriert, der das Wort “sauntering” folgendermaßen erklärte:
[Saunterers sind] müßige Leute, die im Mittelalter im Land umherzogen und, unter dem Vorwand, nach dem Sainte Terre – dem Heiligen Land – unterwegs zu sein, um wohltätige Gaben baten, bis Kinder riefen “Dort geht ein Sainte-Terrer” – ein Saunterer, ein Umherwanderer. Jene von ihnen, die nie wie vorgegeben zum Heiligen Land gingen, sind tatsächlich müßige Leute und Vagabunden; diejenigen aber, die wirklich dorthin wanderteten, sind “Sainte-Terrers”, Umherwanderer in meinem Sinne. Manch anderer würde das Wort jedoch von “sans terre” ableiten: ohne Land oder eine Heimat. Im guten Sinne kann das bedeuten, dass man kein bestimmtes Zuhause hat und deshalb überall gleichermaßen zuhause ist. Denn dies ist das Geheimnis des erfolgreichen Umherwanderns. Jemand der immer still im Hause sitzt, kann der größte Landstreicher von allen sein; aber der Umherwanderer (saunterer) im guten Sinne ist ebensowenig ein Landstreicher wie der mäandernde Fluß, der unentwegt dabei ist, den kürzesten Weg zum Meer zu finden.[1]
Obwohl mein Umherwandern nicht im wörtlichen Sinne auf das Heilige Land ausgerichtet war, so hatte es wohl eine Ausrichtung, die für mich mit etwas Heiligem zu tun hat: Auf das Land an sich und auf die Geschichten, die sich darin verbergen. Die Geschichten der Gesteine, der Flüsse, des Bodens, und der Lebewesen. Insbesondere wollte ich herausfinden, welche Spuren die Trennlinie, die nach dem 2. Weltkrieg über das Land gezogen worden war, in den Menschen und in der Landschaft hinterlassen hatte. In diesem Sinne würde ich tatsächlich um wohltätige Gaben bitten: Nicht um Geld oder Essen, sondern um die Geschichten und Erinnerungen der Menschen, denen ich begegnete.
Dann war da noch das zweite Element des Begriffs “saunterer”, Umherwanderer, in Thoreaus Interpretation: “Sans terre,” “ohne Land und ohne Heimat.” Dies ist eine zentrale Frage im Leben aller, die ihre ursprüngliche Heimat verlassen haben, sei es aus freier Wahl, aus Notwendigkeit, oder durch Gewalt. Kann ein Mensch je eine andere Heimat finden? Oder ist es möglich, wie Thoreau meint, überall gleichermaßen zuhause zu sein?
Unter den Menschen, mit denen ich währnd meiner Expedition entlang der ehemligen Grenze sprach und die mir nicht nur durch ihre Erinnerungen, sondern auch durch Essen und Unterkunft Wohltätigkeit erwies, ist Silke Kowalski, eine Künstlerin, deren Haus nur einen Steinwurf weit von dem Elbdeich steht, auf dem einst der Grenzzaun stand. Neben vielen anderen Dingen sprachen wir auch darüber, was Heimat für sie bedeutet. Im folgenden gebe ich Silke Kowalskis Gedanken wieder. Am Schluss spricht sie über ihren Ehemann, der nur wenige Monate vor meinem Besuch gestorben war. Als kleiner Junge fand er sich durch den 2. Weltkrieg im wahrsten Sinne des Wortes “sans terre”, ohne Heimat. Eine Erfahrung, die damals Millionen Menschen betraf und auch heute wieder betrifft. Wolfgang Kowalski hatte das Glück, bei seiner Frau Silke eine neue Heimat zu finden und mit ihr aufzubauen.
Silke Kowalski zum Thema Heimat
Heimat fängt für mich mit dem Blick auf die Höhenzüge von Hitzacker an. Ich war zwar niemals lange vom Umfeld meiner Kindheit entfernt, aber wenn ich von einer Reise zurück komme, bin ich glücklich, zuerst die blauen Berge wieder zu sehen.
Ich liebe den Geruch der Elbe und den harzigen Duft des Waldes. Ich freue mich über das saftige Grün der Wiesen im Elbvorland. Dazu gehören die Rufe der Grau-oder Silberreiher, der Schwäne und Wildgänse und das fröhliche Gezwitscher der Schwalben.
Mein Geburtsort liegt zwischen dem Urstromtal der Elbe und dem Rens, einem Kiefernwald, der sich über ein großes Gebiet erstreckt. Im August blühen dort auf den Lichtungen hohe Gräser, bei Wind wogen sie wie ein rotes Meer. Hin und wider stößt man auf Dünen, die durch die letzte Eiszeit entstanden sind. Auf ihnen haben sich zum Teil harte Rentierflechten und Dünengräser angesiedelt. Man kann wunderbar barfuß darüber gehen, es kratzt angenehm an den Füßen und raschelt leise. Im Sommer erwärmen sich die Stellen auf den Dünen, die vom Wind kahl gefegt worden sind. Ich habe mich oft in den warmen Sand gesetzt und ließ die feinen, weißen Kristalle, die dort schon seit Millionen von Jahren lagerten, durch meine Finger rieseln. Dabei bekam ich ein Gefühl der Unendlichkeit einerseits und andererseits das der Endlichkeit unserer menschlichen Existenz überhaupt.
Aber das Schönste an allen Streifzügen war für mich der Gedanke, dass meine Vorfahren einst die gleichen Wege gingen, die gleichen Gerüche atmeten, von der gleichen Vogelwelt umgeben waren und die Höhenzüge der blauen Berge sahen.
Ich suchte und fand die Spuren ihres Daseins. Die Bäume, die sie gepflanzt hatten, die Gärten, die sie einst anlegten. Ob Forken- Harken – oder Hackenstiele, alle waren glatt vom vielen Gebrauch in ihren Händen. Ich habe jede Tür, jeden Schrank, jedes Nähschränkchen andächtig bestaunt, wenn mir gesagt worden war: „ Das hat dein Vater gebaut.“ Mein Vater, den ich nie gesehen habe, weil der Krieg ihn mir nahm. Aber trotzdem hatte ich das Gefühl, ihm nahe zu sein. Ich wuchs unter dem Dach des Hauses auf, das meine Eltern gemeinsam erbaut hatten.
Für all das bin ich dankbar.
Mein Mann hatte nicht so großes Glück, denn auch sein Vater war im zweiten Weltkrieg umgekommen. Wolfgang kannte seinen Vater nur aus dem Fotoalbum und von den Erzählungen seiner Mutter. Das galt auch für seine ersten Lebensjahre, an die er keine deutlichen Erinnerungen hatte und die er nur von Fotos kannte. Im Alter von vier Jahren musste Wolfgang zusammen mit Mutter und Großmutter seine Geburtsstadt in Pommern verlassen.
Am neuen Wohnort in Mecklenburg fühlte der Junge sich viele Jahre lang fremd. Mit fünfzehn Jahren begann seine Ausbildung abermals an einem anderen Ort. Als Neunzehnjähriger stand Wolfgang bereits im Berufsleben und kam somit in mein heimatliches Umfeld. Zu der Zeit fühlte er sich entwurzelt, er bezeichnete sich als heimatlosen Gesellen.
Das änderte sich erst mit den Jahren, in denen wir unsere eigene kleine Welt aufbauten und die Kinder aufwachsen sahen. Wolfgang war endlich zu Hause angekommen. Meine Heimat wurde auch die seine. Er pflanzte Bäume, baute und schaffte unermüdlich. Die Spuren seiner Hände Arbeit werden noch in den nächsten Generationen erlebbar sein, falls nicht wieder ein völlig sinnloser Krieg für so viele Menschen alles Gute und Schöne zerstört.
Liebe Kerstin,
der Text von Frau Kowalksi ist sehr schön und berührt mich. Die Gedanken von Henri Thoreau begleiten mich seit meiner jungen Erwachsenzeit (“Walden”). Die Übersetzung klingt etwas eigenartig (“… eine Heimat land …”), doch es kommen viele Erinnerungen aus den letzten 45 Jahren hoch (Pfadfinderentdeckungen unserer wunderschönen Heimat Deutschland). Ich bin ja ebenfalls ein absoluter Heimatmensch (Bremer / Norddeutscher), der es kaum aushält über eine Woche hinaus aus dieser Region entfernt zu sein. Ich bin dankbar hier geboren worden zu sein und leben zu dürfen. Ich betrachte das als ein wunderbares Priveleg, das ich mit Würde und Wertschätzung wahrnehme und auch kommuniziere.
Mir gefällt Dein Text sehr und Deiner thematische Herangehensweise zur “Heimat-Entdeckung” wünsche ich weiterhin viel Erfolg. Danke für den deutschen Text … mein Englisch ist einfach sehr schlecht …
Liebe Grüße
Hallo Stoffel, vielen Dank fürs Lesen und für Deine Gedanken! (und fürs Korrekturlesen – das eine “land” war tatsächlich überflüssig…)